Medizin und Tourismus – prallen da zwei Welten aufeinander? Ein Plädoyer für neue Geschäftsmodelle

Gesundheit ist der wichtigste Wert der Deutschen. Das sagt zum wiederholten Mal der Werteindex von Trendbüro und TNS Infratest (Werte-Index 2016). Wie man diese Steilvorlage nutzt? Die Fitnessbranche hat es vorgemacht, die Medien- und Kommunikationsbranche auch. Was kann der Medizin- und Gesundheitstourismus künftig tun, um das vorhandene Nachfrageinteresse „abzuholen“? Neue Geschäftsmodelle entwickeln, meinen Dr. Andreas Keck und Cornelius Obier.

 

 Über 60% der Deutschen interessieren sich für Gesundheit und Gesundheitsreisen

66% der Deutschen ist es wichtig, etwas für die Gesundheit zu tun. 31% informieren sich häufig in den Medien über Gesundheit und ein identisch großer Anteil versucht, durch vorbeugende Präparate und Maßnahmen, die Gesundheit zu erhalten. Das sagt die renommierte “Studie  Best for Planning 2015” – auf der Basis von 31 Tsd. Befragten deutschlandweit. Im Gesundheitstourismus sieht es ganz ähnlich aus. Unsere Gesundheitstourismusstudie zeigt es deutlich: 63% haben Interesse an Gesundheitsreisen,  31 % haben in den letzten drei Jahren eine Gesundheitsreise unternommen.

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Quelle: “Marktstudie Gesundheitstourismus”, © PROJECT M GmbH 2014

Die Ergebnisse passen somit zusammen: Rund 60% der Bevölkerung haben Interesse an Gesundheit und Gesundheitsreisen, rund 30% gehören zum „harten Kern“ der Gesundheitsaktiven.

 

Gesundheit ist Ansichtssache – jeder versteht etwas anderes darunter

Für den einen ist Gesundheit die Abwesenheit von Krankheit, der nächste verbindet damit einen attraktiven Körper, wieder andere sehen es ganzheitlich und verstehen Gesundheit sozial, körperlich und geistig. Entscheidend ist der sog. „Health Belief“. Jeder von uns hat eine ganz bestimmte Vorstellung davon, was seiner Gesundheit schadet, was ihr nützt und die meisten haben sich auch entschieden, welchen Einsatz sie für ihre Gesundheit leisten möchten. Die Vorstellungen reichen von gar nichts tun bis  „Sauna 1x/Monat und danach 2 Bier“ bis hin zu „Magerkost und „5 x Joggen/Woche“.  Diese Einstellungen können über Jahrzehnte unverändert bleiben und sind eine wichtige Grundlage für das Interesse an Gesundheitsdienstleistungen.

Es gibt eine wissenschaftliche Spezialrichtung, die Gesundheitspsychologie, im Rahmen derer die Beziehung des Menschen zum Thema Gesundheit erforscht wird. Es gibt mittlerweile ausgefeilte Modelle zur Erklärung des Gesundheitsverhaltens, wie z.B. das Precaution Adoption Process Model (PAPM):

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Quelle: eigene Darstellung nach Weinstein, 1988; Weinsteine & Snadman, 1992

Das Modell erklärt, welchen „inneren“ Weg man gehen muss, um sich gesünder zu verhalten – es ist eine etwas ausführlichere Beschreibung des umgangssprachlichen „den inneren Schweinehund überwinden“.  Wenn man Gesundheitsangebote konzipieren und vermarkten will, lohnt es sich, dieses Modell im Hinterkopf zu behalten. Jeder potentielle Käufer steht auf einer dieser sieben Stufen. Keine dieser Stufen kann in der Regel einfach so übersprungen werden.

Wie man sieht: Es muss letztlich für jeden Einzelnen vieles zusammen passen, damit ein für den Gesundheitsreisenden interessantes und begehrliches Produkt entsteht.

 

 Produkte und Vertriebswege, die funktionieren … eine Herausforderung

Die Konkurrenz um den Gast oder Patienten ist groß. 350 Heilbäder und Kurorte in Deutschland betreiben Gesundheitstourismus, fast 60% aller Urlaubsregionen in Deutschland, der Schweiz und Österreich haben Gesundheitstourismus als Geschäftsfeld definiert. Spezialreiseveranstalter, Klinikketten und unzählige Einzelanbieter sind aktiv. Gerade in diesem wettbewerbsintensiven Umfeld braucht es eine genaue Passung zwischen Wünschen und Bedürfnissen auf der einen sowie Produkt, Preis, Vermarktung und Vertrieb auf der anderen Seite. Und genau hier liegen die Herausforderungen:

  • Wie lassen sich Produkte entwickeln, die dem „Health Belief“ und den Bedürfnissen der avisierten Zielgruppen entsprechen? Es sorgt immer wieder für Aha-Effekte, dass Medical Wellness-Gäste auf ganz anderen Vermarktungs- und Vertriebswegen anzusprechen sind als Menschen mit chronischen Erkrankungen, die einen sorgenfreien Urlaub verbringen wollen, oder Gesunde, die für eine Präventionsreise mit Gesundheitscheck affin sind.
  • Wann entstehen die „windows of opportunities“ für die Ansprache eines Gastes oder Patienten? Gemeint sind optimale Zeiträume, in denen der potentielle Kunde besonders offen für Gesundheitsangebote ist. Dies kann z.B. ein erstmaliges Nachlassen der Leistungsfähigkeit, das kürzliche Auftreten von Beschwerden, der Zeitpunkt der Diagnosestellung sein usw. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es gilt, diese „Fenster“ zu identifizieren und gegebenenfalls gemeinsam mit Partnern aus Medizin und Gesundheitswirtschaft zu nutzen.
  • Wer ist überhaupt bereit, für welche Leistung zu bezahlen? Wie erreicht man Selbstzahler? Wie ist überhaupt die Struktur dieser Zielgruppe, wie lassen sie sich ansprechen? Zur Beantwortung dieser Fragen kann man hervorragend auf im Markt eingeführte Zielgruppentypologien, wie die SINUS-Milieus, oder indikationsspezifische Nachfragesegmentierungen zurückgreifen. Mit den vorliegenden Daten haben wir eine Verknüpfung zwischen SINUS-Milieus und Gesundheitsreiseverhalten geschaffen.
  • Wann und wo lassen sich Gesundheitsreiseaffine am besten ansprechen? Wie kann eine „Customer Journey“ im Gesundheitstourismus aussehen? Mehr und mehr setzen sich im Markt Perspektiven durch, die über den eigentlichen Aufenthalt am Gesundheitsreiseziel hinaus denken. Verschiedene Beispiele im Markt lassen lassen es bereits erkennen: Robinson betreibt zwischenzeitlich die ersten gesundheitsorientierten Fitnessstudios. Auch Angebote im betrieblichen Gesundheitsmanagement gehen weit über den Aufenthalt hinaus und sind einzubinden in ein Gesamtsetting. Daher sind im Gesundheitstourismus ganz neue, ganzheitlich gedachte Kooperationen und neue Geschäftsmodelle nötig.

 

 Perspektiven, Antworten, Erfolgsbeispiele

Ein wenig ist es ähnlich wie in anderen touristischen Marktsegmenten, wie z.B. dem Radfahren: Niemand käme auf die Idee, Genussradler, Mountainbiker, Rennradfahrer, Etappenradler u.a.m. mit der gleichen Marktbearbeitung zu überziehen.

radler

Im Gesundheitstourismus allerdings scheint der Markt das erst lernen zu müssen: Noch viel stärker als bisher müssen segmentierende  Marktbearbeitungsstrategien und ganzheitliche Geschäftsmodelle her. Dabei wird deutlich, dass eine Gesundheitsreise kein mit Abschluss der Reise beendeter Prozess ist, sondern umfassend eingebettet ist in den Gesamtkontext des Gesundheitszustands und –verhaltens des Reisenden. Entsprechend müssen künftig erfolgreiche Geschäftsmodelle auch ganzheitlich, über Tourismus und Reisen hinaus, definiert werden.

Die aufgeführten Fragen werden wir nach und nach auf diesem Blog beantworten.  Folgen Sie uns, lassen Sie sich inspirieren und tauschen Sie sich mit uns aus. Gemeinsam werden wir Marktperspektiven, Antworten und Erfolgsbeispiele herausarbeiten. Viel Spaß beim Lesen!


Geschrieben von Dr. Andreas Keck und Cornelius Obier

Wir arbeiten bereits seit zehn Jahren erfolgreich zusammen im Medizin- und Gesundheitstourismus. Mit der gesundheitstouristischen Kompetenz von PROJECT M und dem medizinischen Know How von KECK MEDICAL verstehen wir uns als Brückenbauer und Impulsgeber an der Schnittstelle zwischen Tourismus und Gesundheit. Mit unserem gemeinsamen Blog möchten wir Daten, Fakten und Meinungen zu aktuellen Themen im Gesundheits- und Medizintourismus kommunizieren. Lassen Sie sich inspirieren!


3 Kommentare

  1. […] Gesundheit ist der wichtigste Wert der Deutschen. Das sagt zum wiederholten Mal der Werteindex von Trendbüro und TNS Infratest (Werte-Index 2016). Wie man diese Steilvorlage nutzt? Die Fitnessbranche hat es vorgemacht, die Medien- und Kommunikationsbranche auch. Was kann der Medizin- und Gesundheitstourismus künftig tun, um das vorhandene Nachfrageinteresse „abzuholen“? Neue Geschäftsmodelle entwickeln, meinen Dr. Andreas Keck und Cornelius Obier.  […]

  2. […] positionieren? Angesichts des erheblichen Nachfragevolumens  (vgl. z.B. Artikel Medizin und Tourismus) könnte man im Gesundheitstourismus von einem massenmarktähnlichen Selbstläufer ausgehen. […]

  3. […] der Fragestellung kann erklären, warum Analysen trotz des wachsenden Gesundheitsbewusstseins (vgl. Artikel vom 17. Oktober) auf eine stagnierende Entwicklung bei Gesundheitsreisen schließen. Wie dem auch sei: […]

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