„Reisen ermöglichen Veränderungen. Das ist ein Mehrwert.“
Reisen als verändernde Kraft im Leben der Menschen: Wolfgang Isenberg über den wiederentdeckten Wert der Reiseerfahrung, blinde Flecken der Branche und die Zukunft des Massentourismus.
Herr Dr. Isenberg, Sie beobachten die Tourismusbranche schon sehr lange. Welches Thema halten Sie aktuell für sehr wichtig und welche Entwicklungen können Sie ausmachen?
In den letzten Jahren hatte ich Gelegenheiten, das Thema Tourismus aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Interessante Fragen sind und werden es auch sicherlich bleiben: „Was erwarten Reisende eigentlich? Was wollen sie erleben? Was macht sie glücklich?“ Bei der Urlaubsgestaltung spielt zunehmend der Aspekt der Sinnsuche eine nicht unerhebliche Rolle. Das geht durchaus einher mit den Überlegungen: „Welche Angebote kann der Tourismus zur Veränderung der Lebensgestaltung und der Orientierung bereitstellen?“ Die Gewissheit, dass Ortsveränderungen und die damit verbundenen Erfahrungen Impulse für die persönliche Entwicklung auslösen (können), gilt als Grundkonstante. Auch wenn diese Anmerkungen zunächst noch als Nischenthema erscheinen mögen, damit lässt sich Reisen aber als wertvoller Aspekt und vielversprechendes Instrument der Sammlung von Erfahrungen verstehen. Dies spiegelt das Bedürfnis wider, sich selbst mit der Welt in Beziehung zu bringen. Bemerkenswert ist in diesem Kontext auch, dass Unternehmen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, manchmal sicherlich noch etwas zögerlich, kreative Auszeiten und Gelegenheiten gewähren, die Welt in Form von Sabbaticals, persönlichen Projekten oder Praktika zu erkunden. Die Welt sehen, Natur erleben, soziales Engagement oder Selbstverwirklichung sind vielfach die Motive für eine solche Auszeit. Ortswechsel helfen, die Welt und vor allem aber auch sich selbst neu wahrzunehmen. In Verbindung mit den zu erwartenden Änderungen bei den Arbeitskulturen gehören die harten Abgrenzungen von Freizeit und Arbeit bald weitgehend der Vergangenheit an.
Veränderungen erfahren wir laut Hartmut Rosa durch Resonanzerfahrungen. Wie können diese beim Reisen aussehen und welchen Unterschied sehen Sie hier zu heutigem Reiseverhalten?
Nach Hartmut Rosa ist Resonanz ein Begriff, der für ein sinnerfülltes Leben stehen kann: Menschen erfahren ihr Leben dann als sinnvoll, wenn sie Resonanzbeziehungen zu ihrer Umwelt aufbauen können. Für viele sind Urlaub und Reisen inzwischen die eigentlichen Erfahrungsfelder für Lebensbalance, Ruhe und Besinnung. Im Urlaub finden sie oft entsprechende Angebote und professionelle Unterstützung, die im Alltag nicht immer direkt zugänglich sind.
So empfehlen sich Reisen regelrecht als Erfahrungsräume für Resonanz. Das setzt aber voraus, dass Reisende bereit und daran interessiert sind, mit der Welt an touristischen Orten in Beziehung zu treten und sich auf Natur, Menschen, Kunst oder zum Beispiel Architektur einzulassen und über Zusammenhänge nachdenken. Dieses Interesse zeigt das Bedürfnis, sich selbst auf Reisen mit der Welt in Beziehung zu setzen. Voraussetzungen sind das Verlassen einer hermetisch abgegrenzten touristischen Welt, das Sich-Einlassen auf korrespondierende persönliche Bezüge und das Verständnis, dass das Finden authentischer Lebenswelten in touristisch inszenierten Kulissen enden kann. Die Auffassung Rosas öffnet eine besondere Sichtweise auf den Wert des Reisens, zumal sie auch in aktuellen Reisetendenzen aufscheint.
Die Tourismuskritik der 1970er und 1980er Jahre unterstellte Touristen oftmals die Unfähigkeit und ein mangelndes Interesse an selbsttätigen und kreativen Erfahrungen der Umwelt im Urlaub. Gegenwärtig lassen sich deutlich zwei Entwicklungen festhalten: Die „Destination Ich“ gilt als anerkannte Zielperspektive. Dahinter steht das bereits benannte Bedürfnis, auf Reisen sich selbst verändern zu wollen, die Suche nach Inspiration, das Leben fühlen und begreifen. Und: Die Erlebniskultur auf Reisen verändert sich und bewegt sich in Richtung „Destination Alltag“. Gesucht wird die Begegnung mit dem sogenannten Authentischen, dem lebendigen, echten Leben vor Ort.
Glauben Sie, dass es in Zukunft noch die extreme Form des Massentourismus nach dem Ballermann-Prinzip geben wird?
Diese Art von Tourismus hat es in unterschiedlichen Ausprägungen schon zu anderen Zeiten und an anderen Orten gegeben. An Rhein oder Mosel waren in der Vergangenheit einmal ähnliche Erscheinungen zu beobachten, an die heute niemand mehr so gerne erinnert werden will. Es hat sich gezeigt, dass diese Exzesse leider nur schwer zu reglementieren und zu vermeiden sind. Durch eine fehlende soziale Kontrolle hat Urlaub neben neuen Welterfahrungen auch immer Raum für Grenz- und Tabuüberschreitungen eröffnet. Das sollte aber nicht den Blick dafür verstellen, dass Reisende mit ihren Erfahrungen auch Agentinnen und Agenten eines sozialen Wandels sein können. Reisen und Urlaub sind Inspirationsquelle und Ausgangspunkt für Veränderungen im Leben. Das ist ein echter Mehrwert. Reisende denken, weit entfernt von ablenkenden Zwängen des Alltags und der Arbeit, durchaus über sich und ihre persönlichen Ziele nach. Sie treffen ihr Leben verändernde Entscheidungen, zum Beispiel in Bezug auf Beziehungen oder den Beruf.
Beobachten Sie denn schon Anbieter, die nicht nur einen temporären Ausbruch aus dem Alltag versprechen, sondern auch das neue Bedürfnis von Reisenden nach anhaltenden Veränderungserfahrungen adressieren? Und können solche Angebote auch den Massentourismus bedienen?
Die Lufthansa startet in die Urlaubssaison 2019 mit einer Fortsetzung ihrer Kampagne #LifeChangingPlaces. Unter dem Leitgedanken #SayYesToTheWorld zielt sie auf Entdeckerlust. Inhaltlich fokussiert sie bereichernde Erlebnisse und die inspirierende Wirkung von Reisen an Orte, die einen Perspektivwechsel ermöglichen sowie eine Lebensweise fern der gewohnten verkörpern. Nicht nur das Interesse an sinnstiftenden Erfahrungen wird den touristischen Markt in Zukunft verändern. Die Plattformökonomie wird zu weiteren Strukturveränderungen führen und das Geschäftsmodell der Reiseveranstalter unter Druck setzen. Die Veränderungen gehen aber noch weiter: Unternehmen investieren deutlich in das Ausflugsgeschäft, in die Begleitung der Reisenden am Urlaubsort. Wanderungen, Weinproben oder Erlebnistouren sollen neben Hotels und Kreuzfahrten mit der Investition in das Start-up „Musement“ das nächste Wachstumsfeld der TUI werden. Vorstandschef Fritz Joussen möchte es zum führenden volldigitalisierten Anbieter für Destination Experience machen. Auf dem Markt in dem eher kleinteiligen Geschäft mit Touren und Aktivitäten sind aber schon GetYourGuide, Expedia Local Expert, Viator, Airbnb, rent-a-guide oder Adventure World Tours und andere unterwegs. Auch Destinationen werden hier aktiv: Der Turismo de Tenerife verfügt inzwischen über eine eigene Plattform, auf der Reisende neben Exkursionen Wanderungen, Besichtigungen oder Sternebeobachtungen buchen können. Die Vermarktung des „Authentischen“ geschieht darüber hinaus auch unter einer anderen Perspektive: Zur Entlastung besonders stark frequentierter In-Viertel schickt visitBerlin Besucher mit der App „Going Local Berlin“ in die Randbezirke, abseits der bekannten Pfade, um Berlin wie ein „echter Local“ zu erleben.
Gibt es denn Ihren Erfahrungen nach auch noch blinde Flecken, die die Branche hier hat?
Die Branche ist gegenwärtig, verständlicherweise, ziemlich gefangen von den Themen Strukturveränderung, Marktdurchdringung und fokussiert sich auf ihre Wertschöpfung. Fragen eines Kulturwandels in der touristischen Arbeitsorganisation oder eines interdisziplinären Blickes auf das Gesamtspektrum der Treiber touristischer Entwicklungen bleiben eher die Ausnahme. Wegbereiter für eine wertschätzende Unternehmenskultur mit mehr Sinn und Potenzialentfaltung bei seinen Mitarbeitenden ist gegenwärtig sicherlich das Unternehmen Upstalsboom, das seine Mission als Querdenker der Branche und seine werteorientierte Unternehmensphilosophie auch in das Zentrum der kommunikativen Arbeit stellt: Sinnstiftende Perspektiven werden sowohl für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Unternehmens als auch für die Gäste gleichermaßen entwickelt. Der Ausflug der Reisebranche in das Lab-Zeitalter verläuft nur kurz. Vorreiter in den Jahren 2010 und folgende sind die TUI AG mit ihrem Thinktank „Leisure and Tourism“ oder der Schweizer Veranstalter Kuoni, inzwischen Teil der DER Touristik Group. Kuoni interessierte sich für die psychologischen Wirkungen sowie die lebensverändernden Erfahrungen ihrer reisenden Gäste und veröffentlichte auch die entsprechenden Ergebnisse. Damit sind wir dann wieder beim Thema Resonanz: Wichtig ist es zu fragen, welche Veränderungsleistungen Reisen tatsächlich haben, nicht nur als Konsumgut, sondern als Mehrwert.
Gibt es denn Akteure in der Branche, die hier schon weiter sind? Wer wird der Vorreiter eines Resonanz- Tourismus werden?
Auf den Wunsch nach Stille, nach Entschleunigung oder auf die Suche nach Sinn antworten zahlreiche touristische Angebote. Die Tourismus-Agentur Schleswig-Holstein bietet zum Beispiel Schlafstrandkörbe an als „Glückserlebnis“ im Rahmen der Imagekampagne „Das ist Glück“. In Bayern lassen sich mit „stade zeiten“ entspannte Tage, stille Momente oder spirituelle Auszeiten hinter Klostermauern und auf Pilgerwegen inmitten schöner Landschaften erleben. Das Netzwerk „Wege zum Leben. In Südwestfalen.“ erschließt das spirituelle Potenzial der Region. Bewohnerinnen, Bewohner und Gäste werden in eine Kulturlandschaft geführt, die reichhaltig durch Kirchen, Bildstöcke und durch andere Formen christlicher Symbolik geprägt ist, an Landschaftsgrenzen, an Plätze mit beeindruckenden Ausblicken und an symbolhafte Landschaftselemente wie Berggipfel. Oder der „Meditationsweg Ammergauer Alpen“, der auf Kraftorte verweist. „Südtirol Balance“ fordert dazu auf, zur Ruhe zu kommen und an Kraftplätzen neue Energie zu sammeln. Die Österreich Werbung will mit naturbegegnenden Reisen den Menschen in Resonanz zur Mitwelt und sich selbst bringen. Und nicht zu vergessen das Waldbaden: Waldbaden, die naturbezogene Praxis, die darauf ausgerichtet ist, das allgemeine Wohlbefinden aus der Kraft der Natur zu stärken.
Es sind gerade Destinationen wie Südtirol, die sich abwenden von den klassischen touristischen Marketingtools. So werden unter dem Slogan „Was uns bewegt“ in kurzen filmischen Sequenzen auf einer Plattform Geschichten von Menschen aus Südtirol erzählt, wie sie leben, was ihnen wichtig ist. Es werden Themen aufgegriffen, die alle betreffen, ob im Urlaub oder zuhause, sie zeigen Lebenskonzepte, fragen nach dem guten Leben. Da ist zum Beispiel die erste Winzerin, die mit ihren Töchtern in die Elite der italienischen Weinszene aufrückt. Ein Journalist findet Stille, er geht für drei Tage ins Kloster. Oder Architekten, die keine Häuser, sondern, wie sie es ausdrücken, Geschichten bauen. Konsequent verzichtet Südtirol 2019 auf seinen ITB-Messeauftritt und nutzt alternativ das Berlin Travel Festival als Bühne für seine Präsentation, um das Land mit Geschichten von Südtirolern, der gemeinsamen Zubereitung von Knödeln, der Verkostung von Weinen, Speck oder Apfelsorten effizienter und direkter zu bewerben. Bei den Besuchern des Festivals werden eher die Menschen vermutet, die in ihren Werthaltungen Reisen als persönlich weiterbringende Erlebnisse verstehen.
Auf Mallorca ist die Stiftung Itinerem gestartet, eine private Initiative, die die traditionellen, meist abgelegenen, bisher kaum zugänglichen Landgüter der Insel, oft einige Jahrhunderte alt, für Ausflüge, Gespräche und Besichtigungen zugänglich machen will. So entsteht langsam eine Angebotspalette für Menschen, die sich überraschen lassen möchten und definitiv ein Interesse an der Kultur Mallorcas haben. Die Initiatoren der Stiftung sehen reine Strandurlauber nicht als potenzielle Besucherinnen und Besucher: eine deutliche Entscheidung.
Dieses Interview erschien in der Tourismus-Trendstudie des Zukunftsinstituts: Der neue Resonanz-Tourismus. Frankfurt 2019, S. 37-40. Die Fragen stellte Verena Muntschick. Das Zukunftsinstitut erlaubte freundlicherweise den Abdruck.
Bezugsquelle: Die Trendstudie „Der neue Resonanz-Tourismus“ Frankfurt 2019, 116 Seiten, ISBN: 978-3-945647-62-2, 225,00 € inkl. USt., kann bezogen werden über das Zukunftsinstitut. www.zukunftsinstitut.de