Author: Dr. Wolfgang Isenberg

„Reisen ermöglichen Veränderungen. Das ist ein Mehrwert.“

Reisen als verändernde Kraft im Leben der Menschen: Wolfgang Isenberg über den wiederentdeckten Wert der Reiseerfahrung, blinde Flecken der Branche und die Zukunft des Massentourismus.

Herr Dr. Isenberg, Sie beobachten die Tourismusbranche schon sehr lange. Welches Thema halten Sie aktuell für sehr wichtig und welche Entwicklungen können Sie ausmachen?

In den letzten Jahren hatte ich Gelegenheiten, das Thema Tourismus aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Interessante Fragen sind und werden es auch sicherlich bleiben: „Was erwarten Reisende eigentlich? Was wollen sie erleben? Was macht sie glücklich?“ Bei der Urlaubsgestaltung spielt zunehmend der Aspekt der Sinnsuche eine nicht unerhebliche Rolle. Das geht durchaus einher mit den Überlegungen: „Welche Angebote kann der Tourismus zur Veränderung der Lebensgestaltung und der Orientierung bereitstellen?“ Die Gewissheit, dass Ortsveränderungen und die damit verbundenen Erfahrungen Impulse für die persönliche Entwicklung auslösen (können), gilt als Grundkonstante. Auch wenn diese Anmerkungen zunächst noch als Nischenthema erscheinen mögen, damit lässt sich Reisen aber als wertvoller Aspekt und vielversprechendes Instrument der Sammlung von Erfahrungen verstehen. Dies spiegelt das Bedürfnis wider, sich selbst mit der Welt in Beziehung zu bringen. Bemerkenswert ist in diesem Kontext auch, dass Unternehmen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, manchmal sicherlich noch etwas zögerlich, kreative Auszeiten und Gelegenheiten gewähren, die Welt in Form von Sabbaticals, persönlichen Projekten oder Praktika zu erkunden. Die Welt sehen, Natur erleben, soziales Engagement oder Selbstverwirklichung sind vielfach die Motive für eine solche Auszeit. Ortswechsel helfen, die Welt und vor allem aber auch sich selbst neu wahrzunehmen. In Verbindung mit den zu erwartenden Änderungen bei den Arbeitskulturen gehören die harten Abgrenzungen von Freizeit und Arbeit bald weitgehend der Vergangenheit an.

Veränderungen erfahren wir laut Hartmut Rosa durch Resonanzerfahrungen. Wie können diese beim Reisen aussehen und welchen Unterschied sehen Sie hier zu heutigem Reiseverhalten?

Nach Hartmut Rosa ist Resonanz ein Begriff, der für ein sinnerfülltes Leben stehen kann: Menschen erfahren ihr Leben dann als sinnvoll, wenn sie Resonanzbeziehungen zu ihrer Umwelt aufbauen können. Für viele sind Urlaub und Reisen inzwischen die eigentlichen Erfahrungsfelder für Lebensbalance, Ruhe und Besinnung. Im Urlaub finden sie oft entsprechende Angebote und professionelle Unterstützung, die im Alltag nicht immer direkt zugänglich sind.

So empfehlen sich Reisen regelrecht als Erfahrungsräume für Resonanz. Das setzt aber voraus, dass Reisende bereit und daran interessiert sind, mit der Welt an touristischen Orten in Beziehung zu treten und sich auf Natur, Menschen, Kunst oder zum Beispiel Architektur einzulassen und über Zusammenhänge nachdenken. Dieses Interesse zeigt das Bedürfnis, sich selbst auf Reisen mit der Welt in Beziehung zu setzen. Voraussetzungen sind das Verlassen einer hermetisch abgegrenzten touristischen Welt, das Sich-Einlassen auf korrespondierende persönliche Bezüge und das Verständnis, dass das Finden authentischer Lebenswelten in touristisch inszenierten Kulissen enden kann. Die Auffassung Rosas öffnet eine besondere Sichtweise auf den Wert des Reisens, zumal sie auch in aktuellen Reisetendenzen aufscheint.

Die Tourismuskritik der 1970er und 1980er Jahre unterstellte Touristen oftmals die Unfähigkeit und ein mangelndes Interesse an selbsttätigen und kreativen Erfahrungen der Umwelt im Urlaub. Gegenwärtig lassen sich deutlich zwei Entwicklungen festhalten: Die „Destination Ich“ gilt als anerkannte Zielperspektive. Dahinter steht das bereits benannte Bedürfnis, auf Reisen sich selbst verändern zu wollen, die Suche nach Inspiration, das Leben fühlen und begreifen. Und: Die Erlebniskultur auf Reisen verändert sich und bewegt sich in Richtung „Destination Alltag“. Gesucht wird die Begegnung mit dem sogenannten Authentischen, dem lebendigen, echten Leben vor Ort.

Glauben Sie, dass es in Zukunft noch die extreme Form des Massentourismus nach dem Ballermann-Prinzip geben wird?

Diese Art von Tourismus hat es in unterschiedlichen Ausprägungen schon zu anderen Zeiten und an anderen Orten gegeben. An Rhein oder Mosel waren in der Vergangenheit einmal ähnliche Erscheinungen zu beobachten, an die heute niemand mehr so gerne erinnert werden will. Es hat sich gezeigt, dass diese Exzesse leider nur schwer zu reglementieren und zu vermeiden sind. Durch eine fehlende soziale Kontrolle hat Urlaub neben neuen Welterfahrungen auch immer Raum für Grenz- und Tabuüberschreitungen eröffnet. Das sollte aber nicht den Blick dafür verstellen, dass Reisende mit ihren Erfahrungen auch Agentinnen und Agenten eines sozialen Wandels sein können. Reisen und Urlaub sind Inspirationsquelle und Ausgangspunkt für Veränderungen im Leben. Das ist ein echter Mehrwert. Reisende denken, weit entfernt von ablenkenden Zwängen des Alltags und der Arbeit, durchaus über sich und ihre persönlichen Ziele nach. Sie treffen ihr Leben verändernde Entscheidungen, zum Beispiel in Bezug auf Beziehungen oder den Beruf.

Beobachten Sie denn schon Anbieter, die nicht nur einen temporären Ausbruch aus dem Alltag versprechen, sondern auch das neue Bedürfnis von Reisenden nach anhaltenden Veränderungserfahrungen adressieren? Und können solche Angebote auch den Massentourismus bedienen?

Die Lufthansa startet in die Urlaubssaison 2019 mit einer Fortsetzung ihrer Kampagne #LifeChangingPlaces. Unter dem Leitgedanken #SayYesToTheWorld zielt sie auf Entdeckerlust. Inhaltlich fokussiert sie bereichernde Erlebnisse und die inspirierende Wirkung von Reisen an Orte, die einen Perspektivwechsel ermöglichen sowie eine Lebensweise fern der gewohnten verkörpern. Nicht nur das Interesse an sinnstiftenden Erfahrungen wird den touristischen Markt in Zukunft verändern. Die Plattformökonomie wird zu weiteren Strukturveränderungen führen und das Geschäftsmodell der Reiseveranstalter unter Druck setzen. Die Veränderungen gehen aber noch weiter: Unternehmen investieren deutlich in das Ausflugsgeschäft, in die Begleitung der Reisenden am Urlaubsort. Wanderungen, Weinproben oder Erlebnistouren sollen neben Hotels und Kreuzfahrten mit der Investition in das Start-up „Musement“ das nächste Wachstumsfeld der TUI werden. Vorstandschef Fritz Joussen möchte es zum führenden volldigitalisierten Anbieter für Destination Experience machen. Auf dem Markt in dem eher kleinteiligen Geschäft mit Touren und Aktivitäten sind aber schon GetYourGuide, Expedia Local Expert, Viator, Airbnb, rent-a-guide oder Adventure World Tours und andere unterwegs. Auch Destinationen werden hier aktiv: Der Turismo de Tenerife verfügt inzwischen über eine eigene Plattform, auf der Reisende neben Exkursionen Wanderungen, Besichtigungen oder Sternebeobachtungen buchen können. Die Vermarktung des „Authentischen“ geschieht darüber hinaus auch unter einer anderen Perspektive: Zur Entlastung besonders stark frequentierter In-Viertel schickt visitBerlin Besucher mit der App „Going Local Berlin“ in die Randbezirke, abseits der bekannten Pfade, um Berlin wie ein „echter Local“ zu erleben.

Gibt es denn Ihren Erfahrungen nach auch noch blinde Flecken, die die Branche hier hat?

Die Branche ist gegenwärtig, verständlicherweise, ziemlich gefangen von den Themen Strukturveränderung, Marktdurchdringung und fokussiert sich auf ihre Wertschöpfung. Fragen eines Kulturwandels in der touristischen Arbeitsorganisation oder eines interdisziplinären Blickes auf das Gesamtspektrum der Treiber touristischer Entwicklungen bleiben eher die Ausnahme. Wegbereiter für eine wertschätzende Unternehmenskultur mit mehr Sinn und Potenzialentfaltung bei seinen Mitarbeitenden ist gegenwärtig sicherlich das Unternehmen Upstalsboom, das seine Mission als Querdenker der Branche und seine werteorientierte Unternehmensphilosophie auch in das Zentrum der kommunikativen Arbeit stellt: Sinnstiftende Perspektiven werden sowohl für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Unternehmens als auch für die Gäste gleichermaßen entwickelt. Der Ausflug der Reisebranche in das Lab-Zeitalter verläuft nur kurz. Vorreiter in den Jahren 2010 und folgende sind die TUI AG mit ihrem Thinktank „Leisure and Tourism“ oder der Schweizer Veranstalter Kuoni, inzwischen Teil der DER Touristik Group. Kuoni interessierte sich für die psychologischen Wirkungen sowie die lebensverändernden Erfahrungen ihrer reisenden Gäste und veröffentlichte auch die entsprechenden Ergebnisse. Damit sind wir dann wieder beim Thema Resonanz: Wichtig ist es zu fragen, welche Veränderungsleistungen Reisen tatsächlich haben, nicht nur als Konsumgut, sondern als Mehrwert.

Gibt es denn Akteure in der Branche, die hier schon weiter sind? Wer wird der Vorreiter eines Resonanz- Tourismus werden?

Auf den Wunsch nach Stille, nach Entschleunigung oder auf die Suche nach Sinn antworten zahlreiche touristische Angebote. Die Tourismus-Agentur Schleswig-Holstein bietet zum Beispiel Schlafstrandkörbe an als „Glückserlebnis“ im Rahmen der Imagekampagne „Das ist Glück“. In Bayern lassen sich mit „stade zeiten“ entspannte Tage, stille Momente oder spirituelle Auszeiten hinter Klostermauern und auf Pilgerwegen inmitten schöner Landschaften erleben. Das Netzwerk „Wege zum Leben. In Südwestfalen.“ erschließt das spirituelle Potenzial der Region. Bewohnerinnen, Bewohner und Gäste werden in eine Kulturlandschaft geführt, die reichhaltig durch Kirchen, Bildstöcke und durch andere Formen christlicher Symbolik geprägt ist, an Landschaftsgrenzen, an Plätze mit beeindruckenden Ausblicken und an symbolhafte Landschaftselemente wie Berggipfel. Oder der „Meditationsweg Ammergauer Alpen“, der auf Kraftorte verweist. „Südtirol Balance“ fordert dazu auf, zur Ruhe zu kommen und an Kraftplätzen neue Energie zu sammeln. Die Österreich Werbung will mit naturbegegnenden Reisen den Menschen in Resonanz zur Mitwelt und sich selbst bringen. Und nicht zu vergessen das Waldbaden: Waldbaden, die naturbezogene Praxis, die darauf ausgerichtet ist, das allgemeine Wohlbefinden aus der Kraft der Natur zu stärken.

Es sind gerade Destinationen wie Südtirol, die sich abwenden von den klassischen touristischen Marketingtools. So werden unter dem Slogan „Was uns bewegt“ in kurzen filmischen Sequenzen auf einer Plattform Geschichten von Menschen aus Südtirol erzählt, wie sie leben, was ihnen wichtig ist. Es werden Themen aufgegriffen, die alle betreffen, ob im Urlaub oder zuhause, sie zeigen Lebenskonzepte, fragen nach dem guten Leben. Da ist zum Beispiel die erste Winzerin, die mit ihren Töchtern in die Elite der italienischen Weinszene aufrückt. Ein Journalist findet Stille, er geht für drei Tage ins Kloster. Oder Architekten, die keine Häuser, sondern, wie sie es ausdrücken, Geschichten bauen. Konsequent verzichtet Südtirol 2019 auf seinen ITB-Messeauftritt und nutzt alternativ das Berlin Travel Festival als Bühne für seine Präsentation, um das Land mit Geschichten von Südtirolern, der gemeinsamen Zubereitung von Knödeln, der Verkostung von Weinen, Speck oder Apfelsorten effizienter und direkter zu bewerben. Bei den Besuchern des Festivals werden eher die Menschen vermutet, die in ihren Werthaltungen Reisen als persönlich weiterbringende Erlebnisse verstehen.

Auf Mallorca ist die Stiftung Itinerem gestartet, eine private Initiative, die die traditionellen, meist abgelegenen, bisher kaum zugänglichen Landgüter der Insel, oft einige Jahrhunderte alt, für Ausflüge, Gespräche und Besichtigungen zugänglich machen will. So entsteht langsam eine Angebotspalette für Menschen, die sich überraschen lassen möchten und definitiv ein Interesse an der Kultur Mallorcas haben. Die Initiatoren der Stiftung sehen reine Strandurlauber nicht als potenzielle Besucherinnen und Besucher: eine deutliche Entscheidung.

Dieses Interview erschien in der Tourismus-Trendstudie des Zukunftsinstituts:  Der neue Resonanz-Tourismus. Frankfurt 2019, S. 37-40. Die Fragen stellte Verena Muntschick. Das Zukunftsinstitut erlaubte freundlicherweise den Abdruck.


Bezugsquelle: Die Trendstudie „Der neue Resonanz-Tourismus“ Frankfurt 2019, 116 Seiten, ISBN: 978-3-945647-62-2, 225,00 € inkl. USt., kann bezogen werden über das Zukunftsinstitut. www.zukunftsinstitut.de

Reisen als Resonanzerfahrungen – Stiften und Finden von Sinn im Urlaub

„Die Suche nach einem Sinn des eigenen Lebens
ist die grundlegende Sorge des Menschen.“
Viktor E. Frankl (1905-1997)
 
„Resonanz ist die Grundsehnsucht
nach einer Welt, die einem antwortet.“
Hartmut Rosa

Menschen verlernen es augenscheinlich, mit Unsicherheiten, Mehrdeutigkeiten und Widersprüchen umzugehen oder mit sich selbst und der Umwelt in einem befriedigenden Austausch zu leben. Viele fühlen sich zunehmend herausgefordert und isoliert. „Die Welt antwortet ihnen nicht mehr“, meint der Soziologe Hartmut Rosa angesichts dieser Phänomene in seinem Buch über Resonanz[i]. Rosa liefert mit seiner Soziologie der Weltbeziehung auch interessante Perspektiven für eine inhaltliche Beschäftigung mit Fragen der Sinnorientierung und präventiven Gesundheitsförderung im Urlaub.

Resonanz als Verbindung mit der Welt

Für den Soziologen ist Resonanz das Gegenmittel zu einer allgemeinen Entfremdung, sie ist der aktive Kommunikationsstrang, der den Menschen mit der Welt verbindet. Resonanz führt zur Entwicklung eines stabilen Ichs. Angesichts der Entscheidungsoptionen und der gegenläufigen Weltbilder einer fluiden, kulturell und religiös globalisierten (Arbeits-)Welt kann nur eine innere Stabilität einen entsprechenden Ausgleich schaffen.

Resonanz aus Begegnungen mit Kunst, Natur oder Religion

Und so scheint es eigentlich für Menschen nur eine Perspektive zu geben: die Suche nach Resonanz, die Vermittlung und das Erlebnis von Resonanz, und zwar durch Begegnungen mit Kunst, Natur oder Religion, dann „wenn die Welt zu ihnen spricht“. „Resonanz braucht Zeit und eine gewisse Ungestörtheit“. Die einen finden Resonanzräume „in der Kunst, beim Malen, Dichten oder Musizieren. (…) Andere zieht es in die Natur. Sie gehen in den Wald, in die Berge oder ans Meer und fühlen sich dort auf besondere Weise berührt“ – führt Rosa 2014 in einem Interview[ii] aus. So empfehlen sich Reisen regelrecht als Resonanzräume: „Menschen sehnen sich nach Orten und Zeiten, an denen sie einmal nicht unter Optimierungsdruck stehen. Wenn Fremdenverkehrsregionen versuchen, auf solche Weise Resonanzoasen oder Möglichkeiten für alternative Formen des In-Beziehung-Tretens zur Welt schaffen, dann ist dagegen eigentlich nichts einzuwenden.“ Resonanz lässt sich jedoch nicht erzwingen.

Voraussetzungen für eine erfolgreiche Resonanz

Rosa nennt Voraussetzungen für eine erfolgreiche Resonanz, die der Reisende erfüllen muss: „Wenn ich mit etwas in Resonanz treten will, muss ich mich so auf einen Berg oder ein Dorf oder einen Menschen einlassen, dass sie mich zu verwandeln vermögen, so dass sie bedeutsam für mich werden. Menschen fühlen, dass die Berge ihnen etwas zu sagen haben, und indem sie ihrem Ruf antworten, fühlen sie sich lebendig.“ In einem Interview mit Dagmar Weidinger (2018) [iii] führt Rosa weiter aus: „Tatsächlich kann auch ein Ort, etwa ein Dorf, selbst zu einer Resonanzquelle werden, dann nämlich, wenn Häuser und Almen, Kirche und Bäume, Gipfel und Wege in einem ‚Antwortverhältnis‘ zueinanderstehen, wenn sie nicht als Einzelobjekte, sondern als resonierendes Ensemble wahrgenommen werden“. Menschen erfahren im Verständnis Rosas ihr Leben dann als sinnvoll, wenn sie sich mit anderen, mit ihrer Arbeit, mit ihrer Umgebung – lebendig verbunden fühlen, wenn sie „Resonanz erleben und die Welt zu ihnen spricht“.

Schlüssel zum Verständnis

Die (soziologische) Sichtweise Rosas liefert einen Schlüssel zum Verständnis der Wirklichkeit und öffnet einen besonderen Blick auf den Wert des Reisens, auf die Themen Sinnsuche, Wohlbefinden oder präventive, gesundheitsfördernde Lebenswelten im Tourismus. Die Sehnsucht nach Balance, Spiritualität, die Suche nach Sinn oder „Reisen zum Ich“ steht als wichtiges Motivbündel für den Urlaub. In besonderer Weise gewährt er die zeitlichen Voraussetzungen wie Möglichkeiten und auch die entsprechenden Erfahrungsfelder für Ruhe, Unterbrechungen und Rückzug. Dabei ist der Aspekt „etwas für die Gesundheit tun“ besonders wichtig.  In seiner Bedeutung wird Gesundheit in den letzten Jahren zunehmend gleichgesetzt mit dem Bild von einem guten Leben. Gesundheit zählt im Werte-Index der Deutschen[iv] zu den wichtigsten Werten.

Reisen öffnet Sinnfenster. Der Weg zum Ich

Auf den Wunsch nach Stille, nach Entschleunigung oder auf die Suche nach Sinn antworten zahlreiche touristische Angebote. Sie werden zum Beispiel Schlafstrandkörbe als „Glückserlebnis“ im Rahmen der landesweiten Imagekampagne „Das ist Glück“ der Tourismus-Agentur Schleswig-Holstein[v] angeboten. In Bayern lassen sich mit „stade-zeiten“[vi] entspannte Tage, stille Momente oder spirituelle Auszeiten hinter Klostermauern und auf Pilgerwegen „inmitten der schönsten Landschaften“ erleben. Das Netzwerk „Wege zum Leben. In Südwestfalen.“ erschließt, nicht ohne die Bedürfnislagen der „Menschen in der postmodernen Gesellschaft“ skizziert zu haben, das spirituelle Potenzial der Region. Bewohnerinnen, Bewohner und Gäste werden in eine Kulturlandschaft geführt, die reichhaltig durch Kirchen, Bildstöcke und durch andere Formen christlicher Symbolik gekennzeichnet ist, an Landschaftsgrenzen, an Plätze mit beeindruckenden Ausblicken und symbolhafte Landschaftselemente wie Berggipfel,

Meditationsweg Ammergauer Alpen  (Quelle: (c) Anton Brey)

Orte in der Natur.[vii] Oder der Meditationsweg Ammergauer Alpen[viii] führt an Kraftorte, „die Sie einladen, Ihren Geist auf Reisen zu schicken“.  Der Weg lädt ein, in die Geschichte einzutauchen und sich selbst mit jedem Schritt näherzukommen. „In der Gleichmäßigkeit des Gehens finden Sie auf dem Meditationsweg zu innerer Ruhe, schalten vom Alltag ab und sind nur Sie selbst.“ Südtirol Balance[ix] fordert dazu auf, den Alltag loszulassen, zur Ruhe zu kommen, an Kraftplätzen neue Energie zu sammeln. „Spüren Sie bei einem Spaziergang über die Bergwiesen oder im kristallklaren Wasser eines Gebirgsbachs Ihren inneren Rhythmus.“ Und nicht zu vergessen das Waldbaden: Waldbaden, die naturbezogene Praxis, die darauf ausgerichtet ist, Stress zu reduzieren und das allgemeine Wohlbefinden zu stärken: „Die Heilkräfte der Natur – Schritt für Schritt zur inneren Mitte.“[x

Nicht nur Urlauber, sondern auch Geschäftsreisende scheinen verstärkt auf der Suche nach Angeboten zur Entspannung und Kontemplation an Transit-Orten und im Reisemittel selbst zu sein. Im Tourismusreport 2015[xi] skizzieren Kirig und Eckes ein verändertes Unterwegssein und beschreiben eine neue Sehnsucht der Geschäftsreisenden nach innerer Stille.

Mehr Unternehmenskultur

Der Blick auf die Gesundheit wird zwar immer ganzheitlicher. In der touristischen Arbeitswelt selbst zeichnen sich Veränderungen ab, wenn auch erst langsam und sehr vereinzelt. Für Arbeitgeber heißt das, Stressfaktoren innerhalb des eigenen Unternehmens ernst zu nehmen und dafür zu sorgen, dass sich die Mitarbeiter in gesunden Rahmenbedingungen bewegen können. Als Wegbereiter für eine wertschätzende Unternehmenskultur gilt der Hotel-Unternehmer Bodo Janssen. Der Upstalsboom-Weg skizziert den Wandel von einem wirtschaftlich geprägten Unternehmen zu einem menschen- und werteorientierten Unternehmen.

Der Upstalsboom-Weg

Die Maxime des Unternehmers Bodo Janssens[xii] lautet: die Wertschätzung des Menschen und die Inwertsetzung seiner Begabungen und Talente führt zu mehr Innovation und Einsatzbereitschaft, da Mitarbeitende wieder einen Sinn sowohl in ihrer Arbeit als auch in ihrem Leben sehen. Janssen hat nach einschneidenden persönlichen Erfahrungen und grundlegendem Nachdenken, mit welchem Wertegerüst, mit welchem Sinn und Zweck er sein Unternehmen steuern möchte, ein wegweisendes Beispiel dafür geliefert, wie menschenzentrierte Führung, Selbstorganisation, Vertrauen und Achtsamkeit umgesetzt werden können. Sein Weg führte in u.a. in ein Kloster. Das unternehmerische Konzept ist inzwischen differenziert ausgestaltet. Neben der Anwendung im eigenen Unternehmen wird es als Beratungskonzept in „Upstalsboom-Werkstätten“ vermittelt. Ein abgestuftes Konzept stellt die Grundsäulen der gelebten Philosophie und die praktische Umsetzung des „Upstalsboom Weges“ vor. Besonderes Merkmal dieser „Werkstätten“ sind die persönlichen Erfahrungsberichte von Upstalsboomern: Ein Film, Veröffentlichungen oder Berichte von „Upstalsboomern on Tour“ verstehen sich als einführender Impuls. Basisinformationen liefern „Upstalsboom Unplugged“ (eine Werkstatt von und mit den „Upstalsboomern“) und die „Kulturwerkstatt“ zusammen mit Upstalsboomern auf einer Lernreise, um den Wandel im eigenen Unternehmen aktiv zu gestalten.

Der Upstalsboom-Weg (Quelle: https://www.der-upstalsboom-weg.de/)

Die Vertiefung des Upstalsboom-Weges

Das Konzept wird mit den folgenden Elementen weitergegeben:

1. „Das Upstalsboom Curriculum“: Es umfasst insgesamt sechs Module, die Teilnehmende mitnehmen „auf eine persönliche und unternehmerische Entwicklungsreise, eine Reise im Spannungsfeld der Regel des hl. Benedikt bis hin zu den neuesten Erkenntnissen der Gehirnforschung und positiven Psychologie. In unserem Curriculum geht es nicht um deine Position, Funktion, oder deinen Status im Unternehmen, sondern um dich als Menschen.“

2. „Der Upstalsboom Weg ins Kloster“: „Und nur, wer zu sich selbst eine gelingende Beziehung hat, kann auch gelingende Beziehungen zu anderen gestalten. Eine Zeit im Kloster ist ein Weg, die Beziehung zu sich selbst zu stärken.“

3. Das „Kultursightseeing“ lädt ein, in Upstalsboom Betrieben zusammen mit Upstalsboomern, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen und intensiv nachzuforschen.

4. In der Entwicklungswerkstatt treffen sich zweimal im Jahr Upstalsboomer, Gäste, Interessierte und andere Wegbegleiter und arbeiten gemeinsam an den aktuellen Themen des Upstalsboom Weges. Für die Weiterentwicklung der Upstalsboom Kultur muss man sich bewerben.

5. Die „Klosterkurse Team Benedikt“ vermitteln Führungsbewusstsein und Formen der Inspiration des Teams. Bodo Janssen zeigt praktisch und konkret, wie er die Zufriedenheit der Mitarbeiter und die der Gäste erhöhen konnte.

Wertschaffende Entwicklungen

Für die nächsten Jahren sind weitere (touristische) Angebote mit einer ausgeprägten Erfahrungskultur an den Schnittstellen von Selbstveränderung, neuer Religiosität oder Natursehnsüchten zu erwarten, die dem Leben (einen neuen, einen eigenen) Sinn verleihen sollen. Denn gerade Reisen und Unterwegssein bieten für Sinnerlebnisse und Transformationsprozesse den notwendigen Raum, die erforderliche Erfahrungskultur und entsprechende Zugänge zu professionellen Strukturen. Die Veränderungspotentiale des Reisens werden intensiver anerkannt und vermehrt in den Blick genommen (und auch differenzierter analysiert werden müssen). So erhält Reisen eine neue Wertigkeit.


[i] Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 20175

[ii] Rosa, Hartmut: Hier kann ich ganz sein, wie ich bin. Warum wir am glücklichsten sind, wenn wir mit anderen mitschwingen können. (Ein Gespräch mit Hartmut Rosa. Interview: Ulrich Schnabel). Die Zeit vom 28. August 2014. https://www.zeit.de/2014/34/hartmut-rosa-ich-gefuehl

[iii] Weidinger, Dagmar: Ensembles wahrnehmen. Gespräch mit Hartmut Rosa. In: augustin, 463 (2018), Seite 21.

[iv] Wippermann, Peter und Jens Krüger (Hrsg.): Werte-Index 2018. Frankfurt 2017; Kantartns Presseinformation vom 20.11.2017: Werte-Index 2018: Natur und Familie sind den Deutschen jetzt wichtiger. Freiheit und Erfolg werden zur Nebensache https://www.kantartns.de/presse/presseinformation.asp?prID=3609 [15.4.2019]

[v] https://blog.sh-tourismus.de/blog/schlafstrandkorb; https://www.sh-tourismus.de/urlaubswelten/gluecksmomente [15.4.2019]

[vi] https://www.bayern.by/erlebnisse/stade-zeiten/ [15.4.2019]

[vii] https://www.wege-zum-leben.com/netzwerk-wege-zum-leben/hintergrund/ [15.4.2019]

[viii] https://www.meditationsweg.bayern/brennendesherz-ammergau/Der-Weg2/Meditationsweg-Ammergauer-Alpen [15.4.2019]

[ix] IDM Südtirol (Hrsg.): Grundlagenpapier „Entspannen & Wohlfühlen“. Bozen 2016; https://www.suedtirol.info/de/erleben/wellness-entspannung/suedtirol-balance [15.4.2019]

[x] https://www.bayern.by/wald/botschafter/waldbaden/

[xi] Kirig, Anja und Susanne Eckes, : Tourismusreport 2015. Frankfurt 2014, S. 77-78.

[xii] https://www.die-upstalsboom-werkstatt.de/ [15.4.2019]; https://www.der-upstalsboom-weg.de/ [15.4.2019]