Nervöse Zeiten, blühende Natur
Natur und Gesundheit sind laut Werte-Index 2018 des Marktforschungsunternehmens Kantar TNS die wichtigsten Werte der Deutschen. Auch Zukunftsforscher Andreas Reiter bestätigt in seinem neuen Blog-Beitrag: „In Zeiten zunehmender Unsicherheit und Volatilität sehnt sich der Mensch nach einem Ort, an dem er wieder in Resonanz mit sich und der Welt gelangt.“
Gärten waren zwar schon seit eh und je, seit Beginn der menschlichen Zivilisation, kunstvolle Inszenierungen, begehbare pflanzliche Erzählungen – doch noch nie war dieses kuratierte Staunen derart massenwirksam wie heute. Gärten sind zum Ventil einer hypernervösen Stadtgesellschaft geworden, Sehnsuchts-Orte in einer Welt der Nicht-Orte.
Ob in den Büros der digitalen Dienstleister oder entlang von Häuserfassaden (Vertical Garden), ob auf dem eigenen Balkon oder auf städtischen Freiflächen (Urban Gardening) – wucherndes Grün umschmeichelt die Augen, entlüftet die Seele und entlastet das Mikroklima.
Das große Comeback der Gärten (auch als Destination) ist jedoch eine unmittelbare Reaktion auf die von vielen als stressig und bedrohlich empfundene Digital-Moderne. Die Welt zerfranst, wird ungreifbarer, Grenzen (und damit Haltepunkte) verschwimmen. In Zeiten zunehmender Unsicherheit und Volatilität sehnt sich der Mensch nach einem Ort, an dem er wieder in Resonanz mit sich und der Welt gelangt.
Pflanzen sind die legitimen Drogen der Digital Natives, die Wertschätzung natürlicher Kreisläufe ist quasi ein Grundgesetz. Auf Instagram tummeln sich Plantfluencer, biophile Stores schießen in den westlichen Metropolen aus dem Boden wie einst die Coffee Shops. „Das Naturschöne ist dem Digitalschönen entgegengesetzt“, so der Philosoph Byung-Chul Han.
Immer neue Spielarten der Natur-Erfahrung poppen auf, aktuell etwa das „Waldbaden“, mit dem Touristiker ihre Botanik und Besucherfrequenz neu aufladen möchten. Gerne wird da auf Japan verwiesen, wo das Shinrin-yoku (Waldluftbad) eine traditionelle Freizeitaktivität ist und „Waldmedizin“ ein eigener Forschungszweig an Universitäten. Keine Frage, so ein Wald wirkt entschleunigend: Jeder von uns, der gestresst ist, spürt die Wirkung dieses natürlichen Beruhigungsmittels: Die Stille, die schützenden Baumkronen über uns, der weiche Boden unter den Füßen… Der Geruch der Bäume hüllt uns wohltuend ein, ihre Botenstoffe (Terpene, ätherische Öle etc.) umschmeicheln unser limbisches System. Der Blutdruck sinkt, die Stimmung steigt. Aber deswegen gleich Forest Bathing? Schwachsinn!
Was wirklich wichtig ist (wir beobachten diesen Wertewandel seit längerem), ist das aktive Erfahren und kreative Gestalten von Natur – also eben nicht Baden!, sondern Anfassen, Tun. Pflanzen, Jäten, Schneiden, Ernten. Man will die Welt begreifen und dafür macht man sich nur allzu gerne die Hände schmutzig. „Indem kulturelle Güter nicht nur benutzt, sondern auch erlebt werden, werden sie erinnerbar“, sagt der Soziologe Andreas Reckwitz. Die Lebensenergie entsteht durch Anstrengung.
Der Garten ist gewissermaßen Sinnbild eines evolutionären Wachstums, einzig abhängig von Jahreszeiten und Klima – dieses Werden und Vergehen, Blühen und Verwelken der Natur haben wir Menschen anthropologisch tief in uns eingespeichert. Somit ist der Garten eine natürliche Gegenwelt zum disruptiven Wachstum der digitalen Wirtschaft. In dieser „Anverwandlung von Welt“ (Hartmut Rosa) liegt seine starke Anziehungskraft – insbesondere in Zeiten digitaler Transformation.
Gärten sind, konsumanthropologisch gesprochen, Orte der kulturellen Verfeinerung. Sie sind performative Orte (also dann doch wieder irgendwie kapitalistische Abbilder). Im Garten des frühen 21. Jahrhunderts verschränken sich etliche Motive:
- Die Rache des Analogen: Der Gärtner macht sich, die Ärmel hochgekrempelt, die Welt wieder begreiflich. Ja, er wird handgreiflich, wühlt in der Erde, geht der Sache auf den Grund. Symbolisch stehen Gärten für menschliche Kreation, für die Sehnsucht nach evolutionärem Wachstum, einem Gebilde, das keinem Algorithmus, sondern einzig den Launen der Natur (Wind und Wetter) ausgesetzt ist.
- Die kuratierte Natur: mit einem Masterplan wird das Natur-Schöne ent- und die Natur unterworfen, einem natürlichen Display gleich, mit passenden Features. Alles Negative wird ausgeblendet (Trockenheit, Unwetter) – die Natur hat als Wohlfühl-Oase und Paradies on demand zu funktionieren.
- Convenient Nature: Gartenarbeit ist mühsam, die Zeit des Gärtners meist begrenzt. Daher sind Convenience-Produkte wie wasserspeichernde Blumenerde gefragt oder ein langsam wachsender Rasen, der eine zu intensive Pflege erspart. Wie gut, dass es Wetter-Apps und Überwachungsdrohnen gibt.
(Hobby-)Gärtner wissen es längst: gutes Leben ist schönes Leben. Die ästhetische Ausgestaltung des eigenen Lebens findet im Garten ihre äußerste Fortsetzung. Flower up your life. Oder, wie es ein Werbeclaim formuliert: „Mach es zu deinem Projekt.“
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